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Organisatorische Ambidextrie

Ich habe vor kurzem mehrere Fachartikel zu einem für mich neuen Begriff gelesen: der organisatorische Ambidextrie. Seither beschäftigt mich das Thema. Es geht dabei um ein Dilemma von Unternehmen. Einerseits sollten bestehende Geschäfte effizienter werden, schließlich will man ja nicht, dass die Kosten einem davon laufen und der Chef will ja auch immer hören, was man nicht alles optimiert. Andererseits wollen neue Geschäftsfelder aufgebaut werden, damit das Unternehmen langfristig erfolgreich bleibt. Und das geht nun mal nicht ohne Investments.

Ich bin ein großer Verfechter von „zu Tode gespart, ist auch gestorben“ und es gibt für mich gewisse Dinge, über die braucht man mit mir nicht diskutieren, weil ich da eine unverrückbare (manche meinen sture) Meinung habe. Angemessene (fixe) Gehälter zum Beispiel. Aber ich schweife ab, das ist definitiv mal einen eigenen Beitrag wert. Zurück zum Thema der Ambidextrie: Bei der organisatorischen Ambidextrie geht es nach Duncan darum, dass ein Unternehmen beides verfolgen muss, einerseits die Exploitation, also die effiziente Ausnutzung bestehender Kompetenzen, und andererseits die Exploration, also den Aufbau neuer Kompetenzen.

Aber wie geht das jetzt genau; einerseits vorhandenes effizient ausnutzen, andererseits sich nach der Decke strecken? Ich selbst bin jemand, der sehr stark im Tagesgeschäft drin ist und sich damit auch sehr wohlfühlt. Ich habe mich nie als den großen Visionär gesehen. Auch habe ich in der Vergangenheit oftmals die Augen verdreht, wenn „Business Developer“ wieder mal, "mein hart erwirtschaftetes Geld" ausgegeben haben, für ein - zumindest damals in meinen Augen - Hirngespinst, dass sowieso nichts bringt.

Ja, ich bin stur, das heißt aber nicht, dass ich nicht bereit dazu bin einzugestehen, dass das damals sehr engstirnig von mir wahr.

Die Ambidextrie lehrt dazu folgendes: Große Unternehmen stecken genau in dem Dilemma, dass sie gar nicht mutig neue Kompetenzen aufbauen können, weil einerseits die Manager zu übervorsichtig sind (die Prämie darf ja nicht riskiert werden) und andererseits wirtschaftet man ja nicht mit dem eigenen Geld, sondern mit dem der Unternehmensbesitzer, e.g. den Aktionären. Dementsprechend bleibt gar nichts anderes übrig als die Strategie entsprechend der Schlüsselkunden, Marktstudien, bestehender Prozesse und dem, was das Controlling so von sich gibt, auszurichten. Und wenn es dann noch die engstirnigen Verkäufer wie mich gibt, die meinen:  „bringt sowieso nichts, konzentrieren wir uns lieber auf die Kundenbetreuung der aktuellen Kunden, denn die bringen das Geld", sind innovative Projekte gleich mal zum Scheitern verurteilt. Innovation ist in so einem Umfeld schwer bis unmöglich und nicht mal zwingend gewünscht. Die Karriere verlangt ja sowieso in 3-5 Jahren den nächsten Schritt, da sollte man sich mit langfristiger Planung gar nicht aufhalten (ja, das ist Sarkasmus, ich halte nichts von Karriereplanung). Der Artikel schlägt vor, dass Unternehmen, die genau in diesem Dilemma stecken, die Innovation auslagern sollten, in dem eine eigene Spin-Off Organisation gegründet wird, die dann genau das tut, was innovative Unternehmen so tun: Sie gehen in neue Dienstleistungen, Produkte, Nischenmärkte. Ganz unabhängig vom Stammunternehmen.

Ich habe ein paar Jahre im schwedisch-finnischen Konzern Stora Enso arbeiten dürfen und da wurde dies meiner Meinung nach genauso praktiziert. Stora Enso ist ein riesengroßer Spieler im Papier- und Kartonagenbereich, einem Markt, der tatsächlich sehr konservativ ist. Nischenprodukte waren meist schon allein wegen der Produktionslosgrößen, aber auch wegen der Denke im Konzern uninteressant. Und dann hat Stora Enso überrascht und das Start-up Box Inc gegründet. Ziel war es kein schwerfälliger Papierproduzent zu sein, sondern ein Dienstleister, der Kartonagenkäufern und Kartonagenhersteller verbindet und es ermöglichen soll auch kleinere Losgrößen herzustellen. Ja, das Ganze wurde finanziert von Stora Enso, die Akteure agierten aber unabhängig vom Konzern. Ein schönes Beispiel für den Start-Up Vorschlag.

Das mag eine Möglichkeit sein, wenn man ein Konzern ist, vor allem ein so finanziell starker wie Stora Enso. Aber wie kann ein Mittelständler mit seinen sagen wir 10-40 Mitarbeitern sich um sein aktuelles Geschäft kümmern, und gleichzeitig die Augen Richtung Zukunftshorizont richten. Schließlich sind jeden Tag alle Gedanken auf das Tagesgeschäft konzentriert, denn genau dieses Tagesgeschäft ist es, welches am Ende des Tages das Essen auf den Tisch bringt. Ich selbst bin genauso ein Tagesgeschäftsdenker, wie bereits oben erläutert. Diejenigen, die irgendwelche Luftschlösser über Zukunftsstrategien bauen, waren mir immer zuwider. Ich hatte auch weder Zeit noch Interesse an der „Hirnwixerei“, und hab mich lieber damit beschäftigt hier und jetzt Geld zu verdienen – nicht zu sparen, sondern aktuelle reale Geschäftschancen zu ergreifen.

Aber ich habe mittlerweile – mit den grauen Haaren, kommt sich Einsicht – auch verstanden, dass es nicht nur Typen wie mich braucht, sondern es braucht auch die Visionäre, die neue Ideen haben. Und die brauchen auch die Ressourcen, um sich auszuleben. Bei kleinen Unternehmen sind dieses Ressourcen sicher ungleich schwerer aufzutreiben. Umso wichtiger ist aber laut Tushmann (2020) ein entsprechendes Netzwerk an Partnerunternehmen, Verbandstätigkeiten, Joint-Ventures oder Branchenplattformen. Dieses Netzwerk bilden dann die entsprechenden Ressourcen für eine Vision und die Verfolgung von innovativen Ideen, die ein kleiner Mittelständler allein gar nicht stemmen könnte, weil ihm einfach die Arbeitskräfte fehlen.

Ich glaube weiterhin ganz fest daran, dass zu Tode gespart auch gestorben ist. Und ich sehe mich schon bei der nächsten Einsparungsdiskussion sagen: Wir dürfen aber nicht auf die organisatorische Ambidextrie vergessen, schließlich ist die Exploration wichtig für unsere Zukunft. Damit gewinne ich sicher jedes Manager-Bullshit Bingo. Und jetzt ernst gemeint: Ich habe durch die Lektüre meine Meinung geändert. Das Tagesgeschäft ist wichtig und muss verfolgt werden. Davon leben Unternehmen hier und jetzt. Die Exploration für neuen innovativen Ideen und Geschäften sollte aber nicht von Typen wie mir abgetan werden, als unnötig und Geldausgeberei, sondern ja, hat einen Berechtigung. Die Frage ist nur, wie diese Ressourcen eingesetzt werden. Das Konzept erklärt zum ersten Mal für mich schlüssig, den Spagat, in dem sich Unternehmen befinden. Und ja, es ist ein Drahtseilakt. Und ja, ich glaube dennoch, dass gerade die Variante des gemeinsamen Netzwerkens und miteinander neue Ideen und Dinge anzugehen funktionieren kann. Gerade im Mittelstand, gerade da wo Ressourcen limitiert sind.

 

Quellen:

Duncan, R. (1976): The ambidextrous Organisation: Designing dual structures for innovation. New York: North-Holland

Tushmann, M. (2020): Interview Ambidextrie gestern und heute

 

Linksammlung:

https://www.storaenso.com/en/newsroom/press-releases/2020/5/stora-enso-launches-box-inc-a-b2b-marketplace-for-renewable-packaging